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Heute war ich endlich oben. Ich wollte schon immer mal da rauf, aber es ergab sich nie. Schließlich kenne ich ihn eigentlich schon seit meinem ersten Aufenthalt in Dänemark, und der ist schon ein paar Jahre her. Dänemark ist ein tolles Land. Wenn man Ruhe, Entspannung und Erholung sucht. Genau das richtige. Und die Menschen dort. Alle machen sie einen grundglücklichen und zufriedenen Eindruck auf mich. So ganz das Gegenteil davon, wie ich es von hier kenne. Das wurde ihnen sogar bereits amtlich bescheinigt. In einer internationalen Umfrage, wo die glücklichsten Menschen leben, erlangte Dänemark einen der ersten Plätze. Und ließ dabei alle anderen Länder weit hinter sich. Naja, mit so schönen Leuchttürmen ist es ja auch kein Wunder. Denn an einem dieser dänischen Wunderwerke stehe ich gerade. Schlank und filigran in die Dünenlandschaft der Nordsee platziert, lädt seine Silhouette jeden zum Besuch ein. Zu seinem Fuß ein idyllisches Museumscafe, welches früher den Wärter und seine Familie beherbergte und nun zum Kaffeetrinken, Verweilen und Eintrittskartenkauf für den Turm einlädt.
Mit der Eintrittskarte in der Hand setze ich mutig an, die Stufen zum Turm zu erklimmen. Oben bin ich außer Puste ... und gerade einmal erst an der Eingangstür des Leuchtturms angekommen. Er steht auf einer hohen Düne, zum körperlichen Aufwärmen erreichbar über eine gefühlt in den Himmel reichende Treppe mit Holzstufen. Nur der Turm steht im Weg. Es ist windig. Obwohl, stürmisch trifft es besser. Also irgendetwas zwischen windig und stürmisch. Auf jeden Fall unangenehm. Eiskalter Wind fegt mir um die Nase. Vom Turmpodest aus hat man schon einen guten Blick über die weite Dünenlandschaft. Aber mich fröstelt es bereits ein wenig ob des Windes und des angeschwitzten Rückens.
Drinnen im Turmfuß ist es wärmer. Wie ein Segelflieger in der Thermik schraube ich mich Stufe für Stufe die Wendeltreppe nach oben. Ich fühle mich aber eher wie ein lediglich romantisch umschriebenes, in Wirklichkeit jedoch überladenes Frachtflugzeug, denke ich schnaufend und pustend bei mir. Ok, so sportlich interessiert - also von der aktiven Seite aus gesehen - bin ich jetzt ja nun auch nicht. Noch nicht mal von der passiven Seite aus. Freiwillige sportliche Aktivität kann ich mir irgendwie nicht als von der Natur gewollt vorstellen. Man rennt - findige Sportartikelverkäufer nennen es "Joggen" - doch nicht freiwillig, wenn es keinen Grund zum Rennen gibt. Säbelzahntiger und Mammuts sind schon lange ausgestorben. Und anstatt wie die Vorfahren auf die Jagd gehen zu müssen, tut es doch heute auch ein Supermarkt. Dort ist bereits schon alles erlegt, was man zum Leben braucht. Schokolade, Chips, Pizza und alles andere, was man für eine abwechslungsreiche Ernährung benötigt.
Zudem wohne ich auf dem platten Land. Beides, sportliche Resistenz und geografische Herkunft, sind also keine guten Voraussetzungen, wenn man sich vertikal bewegen, mitunter einen Leuchtturm ersteigen will. Und vorallem, wenn man sich bereits auf den Holzstufen davor schon verausgabt hat. Ich schaue nach oben. Die Treppenspirale dreht sich immer noch unaufhörlich aufwärts in die Unendlichkeit. Also gut, denke ich mir, Zähne zusammenbeißen und weiter gehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit endlich das Ende der Wendeltreppe erreicht. Klitschnass und erschöpft trete ich durch die Decke hindurch und stehe ... wieder vor einer Wendeltreppe. Ist nur das Zwischengeschoss. Mit altem Schreibtisch des damaligen Wärters. Und einem winzigen Fenster. Ich blicke hindurch. Ich versuche es. Ganz schön dreckig von außen. Sehe nur nebelverschleierte Umrisse von Dünen und Meer. Das war also das, was der Wärter tagein tagaus gesehen hat, wenn er an seinem Tischchen saß? Über viele Jahre? Darüber sinniere ich. Was machte so ein Wärter eigentlich den ganzen Tag? Er hatte ja bestimmt eine Menge Zeit. Buddelschiffe bauen? Mit dem Smartphone spielen? Ach nein, die gab es ja da noch garnicht. "Eh ein Wunder, dass die Menschen damals ohne Smartphone überleben konnten..." Dieser Satz meines Neffen hängt mir heute immer noch in den Ohren, wenn ich an die heutige junge und aufstrebende Generation denke, die wahrscheinlich alle sofort tot umfallen, wenn man ihnen das Handy aus der Hand nimmt; so fest umklammert, wie sie es andauernd vor sich hertragen. Heute wird auch nicht mehr geschrieben, sondern gepostet. Heute wird auch nicht mehr geliebt, sondern geliked.
Wie mag das wohl überhaupt gewesen sein damals? So ohne Handy? An was hat der Wärter gedacht, als er immer aus dem Fenster sah, oder zumindest so tat, als sähe er aus dem Fenster? An seine Familie? An seine Freunde? Die da vielleicht gerade als Fischer auf dem weiten Meer unterwegs waren und er sich für ihre sichere Heimkehr verantwortlich fühlte? Schließlich gab es in dieser Region sicherlich nur die zwei Berufe: Fischer oder eben Leuchtturmwärter. Vielleicht auch noch ein paar Bauern. Jedenfalls dürfte der zweitgenannte Beruf ein personell eher limitierter Arbeitsplatz gewesen sein, denn so viele Leuchttürme gibt es ja wiederum auch nicht. War es dann ein Privileg, ein Wärter zu sein? Oder war es ein undankbarer Job, den niemand ausüben wollte? Und ich frage mich immer noch schnaufend, wie er das gemacht und durchgehalten hat? Jeden Tag den Turm rauf, Lampe putzen und wieder runter. Jeden Tag den Turm rauf, Lampe anschalten und wieder runter. Jeden Tag den Turm rauf, Lampe wieder ausschalten ... und wieder runter. Später lese ich noch: Alle vier Stunden den Turm rauf, Gewicht für den Drehantrieb hochziehen und wieder runter. Ich glaube, nach zwei Tagen wäre ich tot. An Erschöpfung gestorben. Aber der Wärter? Ich stelle es mir vor: Wahrscheinlich schwebte er - eine Zigarette oder Pfeife im Mundwinkel steckend - die ganzen Treppen fröhlich pfeifend nach oben, als würde er auf einer Rolltreppe im Kaufhaus in die nächste Etage fahren. Ich weiß es nicht.

Ich gehe jetzt weiter in Richtung Spitze. Die kleine Pause tat gut. Nach ein paar weiteren Stufen stehe ich schließlich unter der großen Optik. Bin im Lampenhaus angekommen. Und ziemlich beeindruckt. Das ist noch alles im Originalzustand. Baujahr 1906, wie das Messingschild hergibt, und verdammt gut gepflegt. Regelrecht wie neu. Unten am Fuß stand auf einer Tafel, dass es der jüngste Leuchtturm Dänemarks sei. Lediglich ein paar Kabel und ein Schaltschrank erweitern die antiquierte Installation. Unvermeidlicher Tribut an die Moderne eben. An der Seite der Ausstieg auf die Galerie. Nicht mal einen Meter breit und ebenso niedrig. Über eine schmale vierstufige Sprossenleiter zu erklimmen. Mein Kindheitstrauma kommt zurück. Ich hatte ein Hochbett und daran auch so eine Leiter. Dem Zubettgehen ging da jeden Abend erst einmal ein Intensiv-Höhentraining voraus, bis ich meinen Schlafplatz erreichte. Hätte ich als Kind gewusst, dass es sie gibt, hätte ich dem Bettenhersteller Amnesty International auf den Hals gehetzt. Wegen bewusster Kinderquälerei. Alternativ hätte es aber auch ein niedrigeres Bett getan. Gut, jetzt als erwachsener Mensch zeige ich Tapferkeit und zwänge - oder besser - presse mich auf meinen Knien durch den schmalen Durchlass auf die Galerie an die frische Luft. Geburtskanal eines Leuchtturmwärters.

Endlich draußen auf der Galerie stehend begrüßt mich ein atemberaubender Rundumblick weit auf die See hinaus und ebenso weit ins Hinterland Dänemarks hinein. Ich atme durch. Ich fühle mich frei wie ein Vogel. Ich befinde mich auf der weit und breit höchsten Erhebung der Region, sieht man einmal von den ganzen Energiepropellern ab. Ich fühle mich, als befände ich mich über der Welt. Das Land liegt mir zu Füßen. Nicht nur im wörtlichen Sinn atemberaubend. Ich kann den Leuchtturmwärter jetzt irgendwie verstehen. Kein Platz dieser Welt ist so frei wie dieser. Und nichts ist über einem als das weite Himmelszelt (und ein paar Flugzeuge und eine Raumstation). Ich glaube, ich wäre auch gerne ein Leuchtturmwärter geworden.

Nach einer Weile steige ich wieder hinab. Durchgefroren und zerzaust vom kalten Wind schraube ich mich wieder durch den schmalen Durchlass in den Turm hinein und die Stufen hinunter. Die ganze Zeit des Abstiegs denke ich an den Leuchtturmwärter, wie er tagein tagaus treppauf und treppab rauchend, pfeifend und gewissenhaft seiner täglichen Pflicht Jahr für Jahr nachgekommen ist. Unten mache ich ein Foto vom Treppenhaus. Wie viele Stufen mögen das wohl gewesen sein? Das Schild am Eingang antwortet: 228.